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Naturästhetische Skizzen

Das kontemplative Verweilen: Eine Annäherung

  • florianmatzke
  • 26. Juli 2022
  • 7 Min. Lesezeit

Vor kurzem ist das Buch Vita Contemplativa des Philosophen Byung-Chul Han erschienen. Das Kontemplative bildet aber auch schon 2009, in Duft der Zeit, den Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen. Im Folgenden werde ich einige zentrale Aussagen hieraus vorstellen.


Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die These, dass wir uns heute in einer Zeitkrise befinden, welche auf eine Dyschronie zurückgehe.


"Der Zeit fehlt ein ordnender Rhythmus. Dadurch gerät sie außer Takt. Die Dyschronie läßt die Zeit gleichsam schwirren. (...) Verantwortlich für die Dyschronie ist vor allem die Atomisierung der Zeit. (...) Aufgrund der temporalen Zerstreuung ist keine Erfahrung der Dauer möglich. Nichts verhält die Zeit. Das Leben wird nicht mehr eingebettet in die Ordnungsgebilde oder Koordinaten, die eine Dauer stiften."

Die Zeit laufe bzw. stürze heutzutage richtungslos fort, "weil sie von keiner temporalen Gravitation gehalten" werde. Der Fluss der Zeit werde nicht mehr geregelt oder rhythmisiert. Sie verfließe haltlos ins Offene. Byung-Chul Han spricht auch von der Atomisierung der Zeit, in der die Zeitpunkte einander gleichen würden. Die lineare Zeit zerfällt zu Punkten, da ihr die narrative Spannung abhanden gekommen sei.


Ursachen der Dyschronie


Ehemals habe Gott als "Zeitstabilisator" gewirkt. Doch mit dem Tod Gottes verliere die Zeit ihre Spannkraft, wodurch diese zu einer bloßen Abfolge "punktueller Gegenwart" zerfalle. "Die Gegenwart führt keinen langen Schweif des Vergangenen und des Zukünftigen mehr mit sich." Götter hingegen "erzählen, wie Dinge und Ereignisse zusammenhängen. Der erzählte Zusammenhang stiftet Sinn." Das Subjekt der Zeit ist heute aber nicht mehr Gott, sondern "der freie Mensch, der sich auf die Zukunft hin entwirft".

Schon Nietzsches tolle Mensch fragt sich, was der Tod Gottes für Auswirkungen für die Menschen hat:


"»Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?"

Nietzsche spricht hier vom leeren Raum, in dem wir richtungslos umherirren. Byung-Chul Han hingegen von der leeren Zeit, die richtungslos fortstürzt.


Symptome des Dyschronie


Der Fortriss der Zeit führe u.a. zum Verlust der Erfahrung. Denn die Erfahrung beruhe auf einer "temporalen Erstreckung". Das Subjekt der Erfahrung bewohne den "Übergang zwischem dem Vergangenen und dem Zukünftigen". Im Gegensatz zum Erlebnis, das punktuell und zeitarm sei, sei die Erfahrung ähnlich wie die Erkenntnis zeitintensiv. Auch temporale Praktiken wie Verbindlichkeit, Treue oder Vertrauen, die eine temporale Kontinuität erzeugen, weichen heute der "zunehmenden Kurzfristigkeit".


Die haltlos fortstürzende Zeit bewirkt auch eine Beschleunigung, eine "Hyperkinese des Alltags", was sich in der modernen Unruhe und Hektik wiederspiegelt. Wir eilen von einer Gegenwart zur anderen, von einer Information zur nächsten, von einem Erlebnis zum anderen, wir kosten eine Lebensoption nach der anderen aus. Und kommen dabei nicht zur Ruhe. Zu einem erfüllten Leben gehören aber "Abschnitte, Abschlüsse, Schwellen und Übergänge" sowie die "Erfahrung der Dauer". Die bloße Fülle führt nicht zu einem erfüllten Leben. Denn:


"Das erfüllte Leben läßt sich nicht mengentheoretisch erklären. Es resultiert nicht aus aus der Fülle von Lebensmöglichkeiten. Auch die Erzählung ergibt sich nicht automatisch aus bloßem Zählen und Aufzählen von Ereignissen. (...) Eine lange Aufzählung von Ereignissen ergibt keine spannende Erzählung."

Zwischen den Zeitpunkten klaffe heute ein "leeres Intervall" bzw. "leere Zwischenräume". Diese Intervalle verursachen eine Langeweile, die es zu beseitigen oder zu verkürzen gilt.


"Damit sie nicht lange weilen, wird versucht, die Sensationen schneller aueinanderfolgen zu lassen. (...) Aufgrund der fehlenden narrativen Spannung kann die atomisierte Zeit die Aufmerksamkeit nicht dauerhaft binden. So wird die Wahrnehmung immer mit Neuem oder mit Drastischem versorgt. Die Punkt-Zeit läßt kein kontemplatives Verweilen zu."

Da sich Ereignisse immer schneller einander ablösen, "ohne sich tief einzuprägen, ohne Erfahrung zu werden", entstehen keine Einschnitte mehr. Auch gibt es keinen sinnstiftenden Zusammenhang mehr. "Der Abbau der narrativen Spannung zieht es nach sich, daß die Ereignisse, da sie nicht mehr auf die narrative Bahn gelenkt werden, richtungslos schwirren."

Auch Wege als Intervalle werden zu leeren Zwischenräumen und Durchgängen, die es so schnell wie möglich zu durchqueren gelte.


"Orientiert man sich ausschließlich am Ziel, so ist das räumliche Intervall bis zum Zielpunkt nur noch ein Hindernis, das möglichst schnell zu überwinden ist. Die reine Zielorientierung nimmt dem Zwischenraum jede Bedeutung. Sie entleert ihn zu einem Korridor, dem jeder Eigenwert fehlt. Die Beschleunigung ist der Versuch, die Zwischenzeit, die für die Überwindung des Zwischenraumes notwendig ist, ganz zum Verschwinden zu bringen. Die reiche Semantik des Weges verschwindet. Der Weg duftet nicht mehr."

Die Epoche der Defaktifizierung und Entterranisierung


Die Moderne befreie den Menschen aus der Geworfenheit, "deren Werfer und Entwerfer Gott heißt". Infolge der Säkularisierung erhebe sich der Mensch zum Subjekt der Geschichte, dem die Welt als herstellbarer Gegenstand gegenüberstehe. Zugleich werde das menschliche Leben durch die moderne Technik entterranisiert.


"Die moderne Technik entfernt den Menschen von der Erde. Flugzeuge und Raumschiffe entreißen ihn der Schwerkraft der Erde. Je mehr man sich von der Erde entfernt, desto kleiner wird sie. Und je schneller man sich auf der Erde bewegt, desto mehr schrumpft sie. Jede Beseitigung der Entfernung auf der Erde bringt eine wachsende Entfernung des Menschen von ihr mit sich. So entfremdet sie den Menschen von der Erde. Das Internet und die elektronische Mail bringen die Geographie, ja die Erde selbst zum Verschwinden."

Räumliche und zeitliche Intervalle werden durch die moderne Technik und die digitalen Medien gänzlich zum Verschwinden gebracht. "Intervalle werden vernichtet, um eine totale Nähe und Gleichzeitigkeit herzustellen. Beseitigt werde jede Ferne, jede Entfernung. Es gilt, alles im Hier und Jetzt verfügbar zu machen."

So sei auch der Netz-Raum ein ungerichteter Raum, die Netz-Zeit eine "diskontinuierliche und punktuelle Jetzt-Zeit". Man bewegt sich von einer Information zur anderen, ohne an Richtungen gebunden zu sein. "Hier hält nichts einen dazu an, bei einer Jetzt-Stelle lange zu verweilen". Denn die Verdichtung von Informationen mache es unmöglich, kontemplativ zu verweilen. "Die Bilder, die die Netzhaut nur flüchtig streifen, binden die Aufmerksamkeit nicht dauerhaft." Daher haben Informationen auch keine dauerhafte und tiefe Wirkung. Man verweilt heute nicht mehr bei den Dingen, sondern zappt sich durch die Welt oder eilt mit der Eisenbahn von A nach B.


Die schönen, dauernden und unscheinbaren Dinge


"Die Epoche der Hast (...) hat keinen Zugang zum Schönen (...). Erst im kontemplativen Verweilen, ja in einer asketischen Zurückhaltung enthüllen die Dinge ihre Schönheit (...)." Die Beschleunigung beraubt uns aber des kontemplativen Vermögens. Umgekehrt kann aber auch die Unfähigkeit, kontemplativ zu verweilen, "eine Fliehkraft erzeugen, die zu einer allgemeinen Hast und Zerstreuung führt". "Ihm bleiben somit jene Dinge verschlossen, die sich nur einem kontemplativen Verweilen erschlössen." Dazu gehören "die Stille, das Lange und Langsame", die Dinge, die dauern, aber auch "das Feine, das Flüchtige, das Unscheinbare, das Geringe, das Schwebende oder das Zurückweichende".


Der kontemplative Blick


Im Gegensatz zur Arbeit, die auf Einverleibung der Dinge aus ist, schont der kontemplative Blick die Dinge. "Der kontemplative Blick ist insofern asketisch, als er auf die Beseitigung der Distanz, auf die Einverleibung verzichtet" und die Dinge gewaltlos betrachtet. Der kontemplative Blick übe sich in einer "Wahrung von Distanz zu den Dingen, ohne jedoch die Nähe zu diesen zu verlieren".


Die vita activa


Den Verlust des kontemplativen Vermögens führt Byung-Chul Han auch auf die "Absolutsetzung der vita activa" und die damit verbundene übersteigerte Aktivität zurück. Im Mittelalter sei die vita activa noch gänzlich von der vita contemplative durchdrungen.


Mit Gebeten beginnt der Tag und sie schließen ihn ab. Sie rhythmisieren die Zeit. Den Fest- und Feiertagen kommt eine ganz andere Bedeutung zu. Sie sind keine arbeitsfreien Tage. Als Zeit des Gebetes und der Muße haben sie eine eigene Bedeutsamkeit.

Im Spätmittelalter (im Zuge der Reformation) beginne die Einstellung zur Arbeit sich radikal zu ändern. Insbesondere im Calvinismus entwickle sich eine "Emphase des Handelns" und die Arbeit erhalte eine "heilökonomische Bedeutung". (Byung-Chul Han orientiert sich hier an den Überlegungen, die Max Weber angestellt hat.)


Der Calvinist verschafft sich seine Heilsgewißheit, indem er entschlossen handelt. Den Heilssuchenden bringt nicht die vita contemplativa, sondern die vita activa seinem Ziel näher. Erst die Entschlossenheit zum Handeln, die Verabsolutierung läßt die vita contemplativa als tatenlose Kontemplation verwerflich erscheinen.

Das Kontemplative wurde immer mehr von der Arbeit abgeschnitten. Die arbeitsfreien Zeiten sind heute nur noch Pausen, in der man sich von der Arbeit erholt, "um sich dem Arbeitsprozeß wieder voll zur Verfügung zu stellen. So stellen auch >Entspannung< und >Abschalten< kein Gegengewicht zur Arbeit dar. Sie sind insofern wieder in den Arbeitsprozeß eingebunden, als sie vor allem zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit dienen." Auch die sogenannte "Freizeit und Konsumgesellschaft" bringe keine wesentliche Veränderung hinsichtlich der Arbeit mit sich. Die Zeit, die nach der Arbeit übrig beleibt, wird mit Konsum, Unterhaltung oder Erlebnissen gefüllt, die flüchtig sind. "In der Konsumgesellschaft verlernt man das Verweilen. Die Konsumgegenstände lassen kein kontemplatives Verweilen zu." Vielmehr sind diese da, um verbraucht und verzehrt zu werden. Entsprechend wird auch die Natur den menschlichen Zwecken unterworfen und als Ware, Kapital und Rohstoff bearbeitet, genutzt und verbraucht. Das Verhältnis zu den Dingen ist das der Negation. "Nicht nur die Arbeit, sondern auch der Verzehr negiert das selbständige Sein."


Die vita activa, die das kontemplative Moment nicht in sich aufnehme, entleere sich zur "puren Aktivität, die zur Hektik und Unruhe" führe. Außerhalb der Arbeit bleibe der Mensch ein Konsument, der die Zeit verbrauche und keinen Zugang zur Kontemplation habe. Es finde von sich aus zu keiner "anderen Wahrnehmung der Welt". Die Freizeit diene nur der Erholung von der Arbeit, kenne aber keine "kontemplative Ruhe". Wir vermögen nicht mehr innezuhalten und uns von den Dingen angehen zu lassen. Ohne die Momente des Zögerns und Wartens degeneriere der Mensch zum animal laborans, zu einem hyperaktiven Subjekt. "Ohne Ruhe vermag der Mensch nicht das Ruhende zu sehen. (...) Fehlt dem Gehen jedes Zögern, jedes Innehalten, so erstarrt es zu einem Marsch." Erst in Momenten des Innehaltens werden wir uns des Raumes gewahr, in dem wir uns aufhalten. "Das Leben gewinnt an Raum und Zeit, an Dauer und Weite, wenn es das kontemplative Vermögen wiedergewinnt."






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