Zur Aktualität von Schopenhauers Naturästhetik
- florianmatzke
- 11. Juli 2022
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Feb. 2024
Für den Philosophen Arthur Schopenhauer ist die Willenlosigkeit eine notwendige Bedingung für die ästhetische Betrachtung der Natur. Schopenhauer zufolge ist der Mensch permanent mit seinem Willen beschäftigt, so dass uns "nimmermehr dauerndes Glück und Ruhe werden kann". Immer unterstehen wir unserem Begehren und dem Drang unserer Wünsche, die, sobald sie erfüllt sind, durch neue Wünsche ersetzt werden. "Dabei ist es im Wesentlichen einerlei ob uns Hoffnung oder Furcht bewegt, ob wir nach dem Guten jagen oder vor einem Uebel fliehen, nach Genuß streben oder Unheil fürchten ... Denn immer ist es die Sorge für den stets fordernden Willen, welche das Bewußtseyn erfüllt und fortdauernd bewegt..."
In der ästhetischen Kontemplation hingegen findet eine Veränderung im Subjekt statt: "plötzlich sind wir herausgehoben aus dem endlosen Strohm des Begehrens und Erreichens; die Erkenntniß hat sich los gemacht vom Sklavendienst des Willens, sie ist frei und für sich da: nun faßt sie die Dinge nicht mehr auf sofern sie den Willen angehn, sofern sie Motive des Willens sind; sondern das Erkennen ist jetzt frei von aller Beziehung auf den Willen: also ist die Erkenntnis ohne Interesse, ohne Subjektivität, betrachtet die Dinge rein objektiv, ist ihnen ganz hingegeben ... diese Reinigung des Bewußtseins von allen Beziehungen zum Willen tritt nothwendig ein, sobald wir irgend etwas ästhetisch betrachten und dann ist die auf dem ersten Wege des Wollens immer gesucht, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten und uns ist völlig wohl." Schopenhauer greift hier auch die Figur des Spiegels auf, um seinen Gedanken zu verdeutlichen. In der Kontemplation ließen wir unser ganzes Bewusstsein von der Anschauung der natürlichen Gegenstände ausfüllen", wir vergessen uns selbst und bleiben "als klarer Spiegel des Objekts" bestehen, "sp, daß es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt".
Gegen Schopenhauer lässt sich an dieser Stelle einwenden, dass es in der naturästhetischen Kontemplation nicht um objektive Erkenntnis, sondern um die sinnliche Anschauung einer vielschichtigen Natur geht. Was jedoch für Schopenhauer spricht, ist, dass die kontemplative Betrachtung der Natur zweckfrei ist. Denn es geht nicht um ein appetatives, verdinglichendes, instrumentalisierendes und verfügbarmachendes Verhältnis zur Natur. Vielmehr geht es darum, dass wir uns als Subjekt zurücknehmen, damit einerseits die Natur in ihrer Schönheit, Erhabenheit und Lebendigkeit hervortreten kann, ohne dass wir einen praktischen Nutzen daraus ziehen und andererseits, wir einen "ruhigen, stillen, willenlosen Gemüthszustand" erreichen.
Diese objektive Anschauung geht entweder aus der "innern Kraft" hervor (Vgl. den Abschnitt über das Erhabene), oder wird "von Außen befördert und sehr erleichtert, wenn die Objekte selbst, durch ihre bedeutsame Gestalt, ihr entgegenkommen, zur reinen Anschauung von selbst einladen; dies thut besonders die schöne Natur: in ihrer Fülle dringt sie sich gleichsam auf zur objektiven Betrachtung. Daher wirkt die Natur so wohlthätig auf das Gemüth ein, durch ihre ästhetische Schönheit."
In dem Zustand der reinen Betrachtung, der allerdings oftmals nur von kurzer Dauer sei, seien "wir unserer Individualität mit allem ihren Leiden entzogen", so dass sogar der, "welcher Noth, Sorgen oder von leidenschaften innerlich gequält wird, dennoch durch einen einzigen freien Blick in die Natur so plötzlich erquickt, erheitert und aufgerichtet wird: dann ist der Sturm der leidenschaften, der Drang der Wünsche, die Unruhe der Furcht und Sorge sogleich auf eine wundersame Art beschwichtigt".
Meistens fehle uns jedoch "die Kraft des Geistes, um uns lange darauf zu erhalten" bzw. "die geniale Beschaffenheit des Geistes". Der Zauber habe, sobald "irgend eine Beziehung jener rein angeschauten Objekte zu unserm Willen, zu unsrer Person wieder ins Bewußtseyn" trete, schnell ein Ende, so dass wir wieder dem Jammer des Lebens hingegeben sind.
Nun, es ist zwar richtig, dass die ästhetische Kontemplation oftmals nur von kurzer Dauer ist und wir uns schnell wieder unseren Sorgen ausgesetzt sind, doch würde ich dies nicht darauf zurückführen, dass den meisten Menschen "die geniale Beschaffenheit des Geistes" fehle. Vielmehr hat dies vermutlich mit mangelnder Übung in der zweckfreien Kontemplation der Natur zu tun. Wir sind es gewohnt, mit anderen Menschen in der Natur zu sein, uns dabei zu unterhalten und weniger auf die Natur zu achten. Viele Menschen brauchen Gesellschaft um sich herum und sind "nicht gerne allein mit der Natur ..., so sehr diese auch alle ihre Schönheiten entfalten mag". Wir sind es außerdem gewohnt, immer irgendwelche Zwecke zu verfolgen, weshalb wir "an allen Gegenständen immer nur die Beziehungen [suchen], welche solche zu ihrem Willen haben können". Die "Möglichkeit eines Daseyns, das nicht im Wollen besteht", ist nicht in unmittelbarer Reichweite.
Oftmals ist es die uns entgegenkommende, schöne Natur, die uns in den Zustand der Kontemplation versetze, d.h. zur ästhetischen Betrachtung aufrufe, selbst dem "Unempfindlichsten wenigstens ein flüchtiges ästhetisches Wohlgefallen" abgewinne und uns zum "willensfreien Subjekt der Erkenntnis" mache. Daneben gibt es Gegenstände der Natur, die uns zwar zur Kontemplation einladen, aber ein "feindliches Verhältniß ... gegen den menschlichen Willen" (dem menschlichen Leibe) haben und "dieses ist auf zweierlei Weise möglich": entweder als eine ihn bedrohende Macht oder als unermessliche Größe, die den menschlichen Leib zu Nichts verkleinert. Wenn der Mensch auf solche Dinge blicke, so fühle er sich "bedroht und geängstigt, oder verkleinert und vernichtet".
Während das Naturschöne das Gemüt in ruhiger Kontemplation erhält - wir verweilen in seiner Betrachtung - errege das Naturerhabene eher Furcht und Schrecken, da es unser Leben einerseits bedrohen kann, andererseits bedeutungslos erscheinen lässt. Das Mathematisch-Erhabene wirkt durch seine unendliche Größe, wie bspw. das Universum; das Dynamisch-Erhabene durch seine furchterregende Macht, wie bspw. ein Sturm oder ein Gewitter.
Schopenhauer ist nun aber der Ansicht, dass wir auch solche Gegenstände "ruhig kontempliren" können, vorausgesetzt, wir sind in der Lage, uns bewusst über unseren Willen zu erheben. Nur als "reines willenloses Subjekt der Erkenntnis" können wir bei der Betrachtung der erhabenen Natur furchtlos verweilen. Wohingegen der, "wenn seine Erkenntnis dem Dienste des Willens hingegeben wäre, nur Furcht oder Gefühl der Vernichtung in ihm erregen könnte". Auch, wenn ein einzelner Willensakt ins Bewusstsein träte, sei es durch wirklich Bedrängnis oder Gefahr, so würde der Wille "alsbald die Oberhand gewinnen" und die "Ruhe der Kontemplation unmöglich machen, der Eindruck des Erhabenen verloren gehn, indem er der Angst Platz machte, in welcher das Streben des Individuums sich zu retten jeden andern Gedanken verdrängte".
Es sei auch nicht selbstverständlich, dass uns stille und einsame Naturgegenden zum kontemplativen Verweilen einladen würden. Vielmehr rufen solche Gegenden eher Beängstigung oder Langeweile hervor, als dass wir hierin ästhetischen Wohlgefallen finden.
"eine weit und breit unabsehbare Gegend, ganz unbeschränkten Horizont, und nun dabei die völligste Einsamkeit, und tiefes Schweigen der ganzen Natur, blauen Wolkenlosen Himmel, Bäume und Pflanzen in ganz unbewegter Luft, keine Menschen, keine Thiere, keine bewegte Gewässer, die tiefste Stille überall ... dem der willensfreien Betrachtung Fähigen, ist die geschilderte Umgebung wie ein Aufruf zum Ernst, zur Kontemplation, mit Loßreißung von allem Wollen und dessen Dürftigkeit".
Naturlandschaften, in denen tiefste Stille, Unbewegtheit, Leblosigkeit vorherrscht, würden dem Willen keine Objekte darbieten, die diesem günstig sind. Der Wille sei aber "des steten Strebens und Erreichens bedürftig". Der nichtbeschäftigte Wille verfällt hier "der Quaal der Langenweile", wohingegen der willensfreie Betrachter in den Zustand der Kontemplation, der "Ruhe und Allgenugsamkeit" eintritt.
Fassen wir das Wichtigste zusammen:
Die Willenlosigkeit markiert den Übergang vom appetativen Naturverhältnis hin zu einer kontemplativen Naturbeziehung. Wir betrachten die Natur völlig zweckfrei, d.h. sie wird nicht konsumiert oder nutzenorientiert betrachtet. Auch greifen wir nicht mit unseren Händen oder mittels moderner Technik in die Natur ein, verwerten diese oder beuten sie aus, sondern belassen sie so, wie wir sie vorfinden. Denn es geht einzig und allein um die ästhetische Erfassung der Natur.
Diese Zurückhaltung können wir auf den Begriff der Askese bringen. Entsprechend kann das kontemplative In-der-Natur-sein als ein asketisches Naturverhältnis verstanden werden. Hier schließt sich die Frage an: "Es liegt nahe, in asketischen Lehren das ideale Manual für eine Verzichtskultur zu sehen, die den letzten Versuch einer Rettung der Natur darstellt. Spätestens seit dem Bericht des Club of Rome, The Limits to Growth (1972), kreisen ökologische Debatten um die Frage, ob es für eine wachsende Weltbevölkerung ein nachhaltiges Leben ohne Verzicht geben kann. Bieten asketische Naturverhältnisse also Orientierung im gegenwärtigen Schleudergang zwischen Apokalytik und Reform?"
Literatur:
Arthur Schopenhauer: Metaphysik der Schönen. München 1985.
Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt/M. 1996.
Cornelia Zumbusch: Natur und Askese. Eine Poetik. Berlin 2022.

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