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Naturästhetische Skizzen

Natur als Raum der Kontemplation

  • florianmatzke
  • 13. Juli 2022
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 9. Juni

Der Philosoph Martin Seel hat explizit beschrieben, was es heißt, die Natur kontemplativ zu betrachten. Auf einige Hauptaussagen werde ich hier näher zu sprechen kommen.


(1.) Am Beispiel der Betrachtung des Bodensees exemplifiziert Seel seine Überlegungen. Zunächst einmal hebt er hervor, dass es "die phänomenale Individualität eines Gegenstands" sei, worauf es der kontemplativen Betrachtung ankomme. Dazu müssen wir aber vom praktischen Nutzen des Gegenstandes für das Erkennen und Handeln absehen.


(2) Zum Reiz der kontemplativen Betrachtung gehöre es, dass sich der See nie gleich sei. Denn je nach Wetter, Windverhältnisse, Tageszeit oder Jahreszeit erscheint der See stets in einem anderem Gewand. "Wenn ich ... den See kontempliere, betrachte ich diesen See, von diesem Blickpunkt aus, in diesem Licht, bei dieser Wellenbewegung, diesem Wasserstand usw."


(3) In der kontemplativen Einstellung geht es einzig und allein um die Wahrnehmung der Fülle seiner Erscheinungen. Ob es das Lichtspiel, die Wellenschläge, "die Fächerung der Farben, die Biegung der Uferlinie, die Weitung oder Verengung des Horizonts" - die kontemplative Betrachtung verweilt bei einzelnen Erscheinungen, die sich ihm zeigen und stets verändern.


(4) Im Hinblick auf die sprachliche, lyrische Beschreibung von Natur kann es in der kontemplativen Haltung nicht darum gehen, einen Gegenstand zu klassifizieren oder zu fixieren. Es kann nur darum gehen, dem phänomenalen Geschehen eines Gegenstandes eine Sprache zu leihen, die den Gegenstand umspielt und umkreist, um "ihn durch immer neue Worte hindurch immer neu zu sehen".


(5) Die kontemplative Betrachtung begreift auch nichts. Vielmehr vertieft sie sich ausschließlich in das Besondere und "nimmt alles, wie es gerade ist".


(6) In die kontemplative Betrachtung können alle fünf Sinne einbezogen sein. Wir können z.B. die Blätter rauschen hören, das Salz am Meeresstrand schmecken, den Blütenduft auf einer Blumenwiese riechen oder den Waldboden unter unseren Füßen spüren. Bezogen auf den optischen Sinn spricht Seel in Anlehnung an Hans Jonas allerdings vom "kontemplativen >>Adel des Sehens<<". Denn im Gegensatz zu den anderen Sinnen kann das Sehen, ähnlich wie das Hören, "allein die kontemplative Wahrnehmung tragen". Das Schmecken und Riechen hingegen können die kontemplative Wahrnehmung nur begleiten. Denn diese Sinne haben keine Distanz zu ihren Gegenständen. Das Sehen und Hören hingegen seien selbständige Organe der Kontemplation, nur diese sind für sich zum kontemplativen Verweilen fähig.


(7) Kriterium kontemplativer Aufmerksamkeit ist die von "Interessen, Werten, Leidenschaften freie, vollzugsorientierte sinnliche Wahrnehmung". Wir müssen von allen Absichten und Affekten abstrahieren, welche die sinnliche Wahrnehmung "in aller nicht kontemplativen Wahrnehmung" lenken. Entsprechend wird Kontemplation als "interesselose sinnliche Wahrnehmung" definiert. Wir müssen, so Seel, von allen sprachlichen und funktionalen Bestimmungen der Dinge absehen, um den Gegenstand in seinem rohen Seinszustand wahrnehmen zu können.


(8) Was wir kontemplativ betrachten, sind meistens nicht einzelne Dinge wie ein Baum, ein See oder der Mond. Nehmen wir bspw. das Meer hinter geschlossenen Fenstern wahr, behält es seinen Dingstatus. Gehen wir hingegen raus zum Meer, kommen die anderen Sinne hinzu und beginnen "den Raum ihrer Tätigkeit kontemplativ zu erkunden". Wir hören das Rauschen des Meeres, schmecken das Salz auf unseren Lippen und spüren das Wasser unter unseren Füßen. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Raum, in den wir als Betrachter eingebunden sind. Martin Seel spricht in diesem Zusammenhang von der Raumkontemplation.


(9) "Was ich im kontemplativen Raum erfahre, ist nicht nur die Augenblicklichkeit, in der sich mir alles bietet, es ist auch meine eigene leibliche Empfänglichkeit, die es bedingt, daß mir dies alles in der vielfachen Hinsicht der Sinne gewahr werden kann." Hier erfahren wir unseren "Leib als anwesend in einem Raum, der weder auf meine Wahrnehmung hin organisiert ist noch durch meine Wahrnehmung auf etwas hin organisiert wird".


Sehen wir uns am Ende zwei Kritikpunkte an, die Hartmut Böhme in seiner Rezension zu diesem Buch vorträgt:


Zum einen wird ihm vorgeworfen, dass er dem Subjekt Vorrang vor der Natur gibt. Das heißt, dass es ausschließlich um die ästhetische Einstellung des Subjekts geht und die Natur selbst, in ihrem Sich-Zeigen nicht zur Sprache kommt. Diese Subjektzentriertheit sei das "Anstößige" an dem Buch. Denn eine Naturästehtik, "die nicht von der Eigenmacht der Natur in jedem ihrer Wahrnehmungsbilder ausgeht", verfehle "ihr wirkliches Zentrum". Kontemplation gliche dann einem "leeren Wiederholungsritual". "Eben deswegen erhalten Atmosphären und Physiognomien der Natur für eine Naturästhetik systematischen Stellenwert. Dann wird es möglich, eine Naturästhetik jenseits des Anthropozentrismus zu entwickeln." Zum anderen versäume Seel jede Reflexion, dass der Mensch qua Leib unverfügbar selbst Natur sei. "Damit wiederholt Seel eine historische Figur menschlichen Selbstverständnisses, das gerade sub specie einer Naturästhetik revidiert werden könnte (und müßte)."


Die eigentümliche Naturlosigkeit sei, wollte mensch diese Kritik in wenigen Worten zusammenfassen, das eigentliche Übel an der Naturästhetik von Seel. In weiteren Beiträgen werde ich mich mit diesen Punkten ausführlicher auseinandersetzen und insbesondere den naturästhetischen Ansatz von Gernot Böhme unter die Lupe nehmen.


Schließlich bleibt auch die Frage offen, ob das kontemplative Verweilen in der Natur im "faustisch-veloziferischen" Zeitalter überhaupt noch möglich ist? Mit dieser Frage werden wir uns auch noch tiefergehend beschäftigen.



Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt am Main 1991, S. 38-88.

Hartmut Böhme: "Eine Ästhetik der Natur" aus der Ferne zu ihr. Rezension zu Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur; in: Zeitschrift f. philosophische Forschung Bd. 46, H. 2, April–Juni 1992, S. 319–326.

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