Was ist Naturentfremdung?
- florianmatzke
- 12. Juli 2022
- 4 Min. Lesezeit
Von Naturentfremdung ist heute vielfach die Rede. Doch was ist darunter eigentlich zu verstehen? Bislang wird darüber wenig nachgedacht. Es ist an der Zeit sich dem Phänomen anzunähern.
Ansichten eines Natursoziologen
Für den Natursoziologen Rainer Brämer hat Naturentfremdung mit dem schwindenden Naturwissen, dem sinkenden Naturinteresse und dem wachsenden Verlust physischer Naturbeziehungen insbesondere bei jungen Menschen zu tun. In welcher Himmelsrichtung z.B. die Sonne aufgeht, wisse etwa nur noch jedes vierte Kind. Als Ursachen werden unter anderem die sich ausweitende digitale Mediennutzung und die Reduzierung von Natur auf abstrakte Begriffe und physikalische Gesetzmäßigkeiten angeführt. Um auf das Beispiel mit der Himmelsrichtung zurückzukommen. Dass immer mehr Kinder nicht wissen, wo die Sonne aufgeht, kann damit zusammenhängen, dass Kinder "generell nicht mehr nach oben [gucken], weil das Smartphone spannender ist" oder auch damit, dass Kinder "auf dem Schulweg schon lange keinen Sonnenaufgang mehr bewundert" haben. (1) (2)
Die Verfügbarmachung der Natur
Die Naturentfremdung hängt auch damit zusammen, dass, wie Hartmut Rosa schreibt, die Welt zum Agressionspunkt geworden ist. (3) Natur wird heute vordergründig im Modus der Verdinglichung und Verfügbarmachung wahrgenommen und behandelt. Sei es als bloßes Material der Arbeit, als Kapital und Dienstleitung im Naturschutz, als Ware in der Ökonomie, als Information im digitalen Medium oder als abstrakter Gegenstand der Naturwissenschaften. In diesem Modus erscheint Natur als das, was es anzueignen, zu kontrollieren, (nachhaltig) zu nutzen, sichtbar zu machen, zu beherrschen, zu erschließen und zu bezwingen gilt. Die Natur wird als stummes Ding behandelt.
Natur als Kulisse
Die Natur in ihrer Erhabenheit, Lebendigkeit und Schönheit hat uns indes kaum noch etwas zu sagen. Selbst wenn wir uns in der Natur aufhalten, etwa bei einem Spaziergang, kann unsere Beziehung zur Natur merkwürdigerweise beziehungslos bleiben. Sind wir die ganze Zeit über im Gespräch, betreiben wir Sport oder Versinken wir in Gedanken, so lauschen wir nicht der Natur. Unsere Aufmerksamkeit ist auf etwas anderes gerichtet. Die Natur dient bloß als Kulisse. Das In-der-Natur-sein stellt somit nicht per se eine Gegenfigur zur Naturentfremdung dar.
Natur als Ort der Erholung
Selbst wenn wir uns in die Natur begeben um uns zu erholen und zu entspannen, kann uns die Natur fremd bleiben. Denn oftmals verfolgen wir dabei persönliche Interessen und Zwecke: Wir lesen ein spannendes Buch, machen einen Mittagsschlaf am Meeresstrand oder ernten Gemüse in unserem Garten. Die Natur um uns herum hat uns unabhängig von unseren Interessen und Bedürfnissen wenig bis gar nichts zu sagen.
Natur als Durchgang
Gestresst von alltäglichen Terminen und Aufgaben, auf dem Fußweg zur Arbeit oder zum Supermarkt, wird die Natur oftmals gar nicht erst wahrgenommen. Stattdessen bleiben unsere Blicke an Schaufenstern, Werbeplakaten und technischen Signalen kleben. Hinzukommt der Lärm des Verkehrs und von Bauarbeiten, der sämtliche Naturklänge und Naturgesänge überdeckt.
Das kontemplative Verweilen in der Natur
Erst wer inmitten der Natur leiblich präsent ist und die Natur mit offenen Augen zwecklos betrachtet und mit offenen Ohren belauscht, tritt aus den Modus der Entfremdung heraus. Naturentfremdung hat nicht bloß mit einem schwindenden Naturwissen oder Naturinteresse zu tun, als vielmehr damit, dass wir uns nicht mehr in der Natur aufhalten und die Fähigkeit zur naturästhetischen Kontemplation verlieren, also die Fähigkeit zum aufmerksamen Lauschen und Betrachten.
Hast und Hektik der Moderne
Dies wiederum hängt einerseits mit der Hast und Hektik in der modernen Zeit zusammen. So schreibt schon Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches:
„Die moderne Unruhe. — Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa’s insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken.“
Digitale Welten, künstliche Räume und technische Fahrzeuge
Andererseits halten wir uns immer weniger in der Natur auf. Stattdessen verbringen wir unsere Zeit hauptsächlich in digitalen Welten oder bewegen uns mit hochmodernen Schnellfahrzeugen durch die Natur. Die alltäglichen Naturphänomene geraten dabei völlig aus dem Blick- und Hörfeld. Halten wir uns abends und nachts immer nur in unserer Wohnung auf, bekommen wir einen erhabenen Sternenhimmel nicht mehr zu sehen.
Die super- und subsensorische Natur
In der digitalen Welt wird Natur oftmals zur „super- und subsensorischen Natur" reduziert, "im Kleinsten wie im Größten jenseits aller Sinne, die erst durch komplexe Medien-Maschinen visualisiert werden muss“. (4) Erinnert sei hier beispielsweise an die neuen Aufnahmen des James Webb Teleskops. Natur wird hier zu einem technisch hochaufwendig produzierten Bild reduziert und die Wahrnehmung ihrerseits technisiert.
Hat die Natur den Menschen darüber hinaus noch etwas zu sagen? Verschwindet Natur als „mundus sensibilis“ nicht immer mehr aus der Lebenswelt?
(2) https://www.wanderforschung.de/files/interview-hamburger-abendblatt-naturentfremdung_1805281541.pdf
(3) Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit
(4) Hartmut Böhme: Aussichten der Natur




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